Undisziplinierte Bücher
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Herausgegeben von:
Iris Därmann
, Andreas Gehrlach und Thomas Macho
Wissenschaftliches Schreiben ist nach wie vor zumeist ein Schreiben in Disziplinen. Das gilt insbesondere für die Geistes- und Sozialwissenschaften: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten akademischen Disziplin bestimmt in einem hohen Maß nicht nur den Inhalt des Gesagten, sondern auch die Form dessen, was überhaupt gesagt werden kann.
Was aber, wenn nicht die Disziplin, sondern die Frage zuerst da ist? Wenn geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung sich jenseits disziplinärer Ordnung in einem primären Fragen verortet und damit ein unmarkiertes Feld betritt. Dann kann ein Forschen und Schreiben entstehen, das nicht interdisziplinär ist, sondern sich jenseits der üblichen Disziplinen und Disziplinierungen des Akademischen stellt.
Die ‚Undiszipliniertheit‘ der Reihe kann sich sowohl in der Methode als auch in der Schreibweise und im Gegenstand der Untersuchungen offenbaren. Der Begriff der ‚Undiszipliniertheit‘ zielt dabei nicht auf ein Jenseits des wissenschaftlichen Diskurses. Er meint vielmehr ein Fragen, das vor der disziplinären Verortung eines Projekts entspringt und den Gang der Untersuchung mit einem Grundton der Dringlichkeit unterlegt. Eine (auch politische) Positionierung der Texte ist durchaus gewollt, wenn nicht unvermeidbar: Mit der Undiszipliniertheit ist nicht nur an eine Verortung abseits oder an den schon ins Marginale übergehenden Rändern wissenschaftlicher Disziplinen gedacht, sondern auch an eine Verweigerung gegenüber öffentlichen und politischen Disziplinierungen. Diese Verweigerung muss nicht explizit sein, darf aber in einem direkten oder indirekten Aktualitätsbezug der Texte sichtbar werden.
Herausgeber_innen
Iris Därmann, Andreas Gehrlach und Thomas Macho
Wissenschaftlicher Beirat
Andreas Bähr, Kathrin Busch, Philipp Felsch, Dorothee Kimmich, Morten Paul, Jan Söffner
Information zu Autoren / Herausgebern
Iris Därmann, Andreas Gehrlach und Thomas Macho
Fachgebiete
Während des Ersten Weltkriegs verhängte das Deutsche Reich in seinen besetzten Gebieten im Osten und im Westen den Passzwang und betrieb damit eine historisch neuartige Form der Fotopolitik. Während im Reich selbst ein Ausweisdokument nur zur Ausreise benötigt wurde, mussten alle Menschen in den Besatzungsregionen – in Nordfrankreich, Belgien, Polen und dem sogenannten OberOst – einen deutschen Pass mit Lichtbild anfertigen lassen. Das Buch handelt von diesem vergangenen Kapitel in der Geschichte der deutschen Pässe und der Passfotografie. Unter Zwang entstanden ab 1915 Millionen von Porträtfotografien in einem speziellen Verfahren: Um Material, Aufwand und Kosten zu sparen, fotografierten deutsche "Passkommandos" die Menschen in Gruppen von fünf bis zehn Personen auf einem Bild, das anschließend in Einzelfotos auseinandergeschnitten wurde. Durch die Fotokamera sah der deutsche Staat jedem und jeder ins Gesicht und demonstrierte mit den Passfotos, deren Bildformat erst erfunden werden musste, seine Kontrollmacht.
Ausgehend von zwei widerständigen künstlerischen Positionen – Bilder von Józef Rapacki und Juozas Šilietis – zeichnet Britta Lange in ihrem Buch eine heute vergessene Geschichte der Passfotografie unter Zwang nach.
Siehe auch: https://geschichtedergegenwart.ch/das-deutsche-passfoto/
In der vorliegenden Studie werden unterschiedliche Arten der Instrumentalisierung von Bildern durch befehlsgebende Mächte und insbesondere der Gehorsamsproduktion untersucht. In fünf historischen Fallstudien, die den Zusammenhang von kolonialen Machtansprüchen und militärischer Bildgebung stets im Blick haben, wird ein weites Spektrum westlich-geprägter Kriegstechniken untersucht: von der Modernisierung der Kriegführung in den Niederlanden und den Gehorsamspraktiken des Jesuitenordens in der frühen Neuzeit, zu den militärischen Bildtechniken in der Fliegerei und der Psychotechnik Hugo Münsterbergs bis hin zu den Bildschirm-Anordnungen des Computer-gestützten Drohnenkriegs der Gegenwart. In je verschiedener Weise werden Bilder in diesen historischen Kontexten zu Schlüsseltechnologien für ein Verständnis militärischer Gewalt. Die Untersuchung der Entstehungs- und Funktionsbedingungen militärischer Bildpraktiken, der ihnen zugrunde liegenden visuellen Kulturen und Theorien des Bildes, der Bild-Pädagogiken und des Drills, nähert sich einer Theorie bildlicher Gehorsamsproduktion, die für ein breites Publikum auch jenseits der historischen Kulturwissenschaft interessant ist.
When Alice steps through the mirror in Lewis Caroll’s Alice's Adventures in Wonderland, she removes herself from the centre of vision and perspective, restoring the autonomy of everything else that lies "beyond" the mirror. Similarly, the philosopher who wishes to engage with the contemporary medial system must pass through the screen, recognising the autonomy of the non-human components of the system, but also understanding the human role within the system itself.
Perched between philosophy and otherdisciplines such as psychology, sociology, neuroscience, computer science, electronics, cultural studies, French médiologie, German Medienarchäologie, and first-order cybernetics, this book challenges our contemporary screen experience and provides the reader with new tools with which to understand it, as well as novel insights into the role of philosophy in the digital condition. Its aim, ultimately, is to lay the foundations of a general theory of being and culture by examining them through their technological manifestations.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts ändern sich die Rezeptionsweisen außereuropäischer Kulturen; insbesondere Asien als "zentrales Feld von Welterfahrung" (Osterhammel) weckt erneutes und anders gerichtetes Interesse als in der Epoche des Orientalismus. In den Künsten entwickelt sich zwischen dem nahenden Ende des Imperialismus und der Gegenwart ein neuer und produktiver Umgang mit den enormen kulturellen Ressourcen Asiens, der über eine Sequenz von Fallstudien insbesondere aus den Bereichen der Architektur, Kunst und Literatur dargestellt werden soll. Dabei wird auch deutlich, dass der Blick der Akteure zunächst meist von West nach Ost geht, bevor, vor allem nach der Dekolonisation, tatsächlich reziproke Kommunikationen entstehen. Im Hintergrund stehen zwei Fragen: Ergeben sich mit fortschreitender Globalisierung auch transkulturelle Mischungen? Und in welcher Weise hat der Bezug der westlichen und später ebenso der östlichen Avantgarden auf die bestehenden Kulturen Asiens die Richtung der Moderne insgesamt verändert? Ansätze indizieren, dass sich mancherorts aus einem universalistisch-homogenisierenden Projekt etwas Neues, eine plurale, historische wie kulturelle Differenzen mehrsträngig mit einbeziehende Moderne zu entwickeln begonnen hat.
Merkur-Preis 2021
Die komparatistische Studie untersucht die Vorstellung des Versagens als eine Diskurs- und Denkgröße, die sich in westlichen kapitalistischen Gesellschaften erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herauszubilden beginnt. Das ‚Versagen‘ hat seinen Ursprung im Feld der Technowissenschaften, greift um 1900 auf die Humanwissenschaften über und wird schließlich in Disziplinen wie der Psychoanalyse oder der Pädagogik mit der Dimension eines biographischen Fortschreitens verwoben. Das Buch zeigt anhand von Lektüren von Melville, Flaubert, Svevo und Kafka, wie die Kategorie des Versagens etwa zeitgleich auch in die Literatur einsinkt und dort sowohl gefestigt als auch unterlaufen wird. An der Denkfigur des Versagens lässt sich, so ein Fazit der Arbeit, eine seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmende, kapitalistisch grundierte Stigmatisierung von Subjekten ablesen, die sich gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber widerständig verhalten – womit in der modernen Denkfigur des Versagens zugleich eine verdeckte Geschichte des Willens in der Moderne eingelassen ist, oder genauer: eine Geschichte des Widerwillens gegenüber Erwartungshaltungen und Normen.
SOS-Signale auf hoher See, Klopfzeichen in Trümmerfeldern, Flaschenposten am Strand: Wenn Menschen in Not geraten, müssen sie mit allen Mitteln auf sich aufmerksam machen. Sie müssen Lebenszeichen senden, um am Leben zu bleiben. Dieses Buch erforscht das Phänomen des Lebenszeichens erstmals aus der Perspektive von Medienkulturwissenschaft, Zeichentheorie und Existenzphilosophie. Anhand zahlreicher Katastrophenszenarien wie Erdbeben, Lawinen und Bergwerkunglücken zeigt die Studie, warum Menschen in Not existenziell von Medien und Kommunikationsmitteln abhängen: Keine Lebenszeichen ohne Signalfackeln, Peilsender, Satelliten oder Infrarotsensoren. Medien in Notfällen sind mehr als nur Mittel zur Kommunikation, sie sind Bedingungen menschlicher Existenz. Sie entscheiden, ob und wie sich Leben in Not äußern kann, ob Lebenszeichen Gehör finden und ob Leben gerettet wird. Damit werfen Lebenszeichen ein neues Licht auf die elementaren Bedingungen menschlichen Lebens: Sie zeigen uns, dass Menschen in Not nur überleben, wenn sie mit Artefakten, Netzwerken und Infrastrukturen verbunden sind, die ihre Existenz ermöglichen.
Hochschulpreis der Bauhaus-Universität Weimar
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung 2022 (2. Platz)
Ähnlichkeit ist ein zentrales, doch theoretisch oft marginalisiertes ästhetisch-epistemologisches Paradigma, das Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften aktuell vermehrt in den Blick nehmen. Wird sie dabei meist als epistemologisch vormodern eingeschätzt, so wurde auf eine moderne „Ästhetik des Ähnlichen" (Funk et al., 2001) verwiesen.
Ausgehend von dem Befund, dass Ähnlichkeit gerade im Milieu des Surrealismus eine bemerkenswerte Konjunktur entfaltet, wird untersucht, wie sie in dessen transversaler Programmatik von rationalen, repräsentationalen und identitären Maßstäben freigesetzt wird. Anschließend an Überlegungen zu einer theoretischen Konturierung der Ähnlichkeit werden die Vorgeschichte der modernen Ästhetik und Epistemologie des Ähnlichen skizziert und konzeptuelle Dimensionen der Ähnlichkeitskonzepte Metapher, Metamorphose, Simulacrum und Mimikry erarbeitet. Im zweiten Teil wird deren ‚entgrenzter‘ Einsatz in Texten und Bildern André Bretons, Max Ernsts, René Magrittes und Roger Caillois’ aufgezeigt.
Die Studie bietet einen Überblick über Ähnlichkeitsreflexionen seit der Antike und versteht sich als Teil der Forschungsbemühungen um eine Re-Evaluierung der Ähnlichkeit und ihrer Persistenz in der ästhetischen Moderne.
Die Forschungsagentur Forensic Architecture untersucht Kriegsverbrechen und ökologische wie politische Krisen und bringt sie mit ihrer "Investigativen Ästhetik" (MACBA 2017) in den Ausstellungs- wie Gerichtssaal. Lisa Stuckey untersucht anhand der Figuration 'Law on Trial' – Gesetz und Recht vor Gericht, auf dem Prüfstand, zur Verhandlung –, weshalb ausgerechnet ästhetischen und poetischen forensischen Verfahren eine radikale Befragung sozialer Gerechtigkeit überantwortet wird.
In punktuellen Exkursen vergleicht die Studie Strategeme von Forensic Architecture mit denen der Medienkünstlerin Constanze Ruhm und der Poetin M. NourbeSe Philip. Nachdem das Recht im 18. Jahrhundert zum "Modellfall für Wissenssysteme" (Vismann/Weitin 2006) geworden ist, steht das heutige buchstäbliche Auf-die-Probe-Stellen von Recht im Zusammenhang mit einer neuen Dimension der Aufdeckung, die an die Institutionskritik der 1990er Jahre anschließt und zu einem Funktionswandel der Künste führt, in denen forensische Verfahren Konjunktur haben.
Veröffentlichung mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF)
Die BRD wird entweder als das Ergebnis einer politisch und zivilgesellschaftlich gelungenen deutschen Integrationsgeschichte der Deutschen in den Westen erzählt oder (aktuell) als eine postmigrantische Gesellschaft bestimmt. Doch keine der beiden Gegenwartsbefunde kann erklären, wie aus Deutschland seit dem Zivilisationsbruch eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist. Dabei gibt es eine Geschichte zur Einwanderungsgesellschaft – sie wurde nur noch nicht geschrieben. Ihre Spuren findet man in der Literatur, im Film, in Integrationsdebatten, sozialwissenschaftlichen, soziologischen Arbeiten, in Integrationstheorien und auch in juristischen Diskussionen seit Beginn der Migration in die Bundesrepublik.
Narrative der Migration bringt genau diese Aspekte, Sedimente und Bereiche in ihrer historischen Folge in einen Zusammenhang und macht die Kulturgeschichte der deutschen Einwanderungsgesellschaft sichtbar. Sie ist geprägt von gestörten Kommunikationen, abgebrochenen politischen Prozessen, von sich wandelnden Begegnungsstrukturen und Praktiken. Als ein wichtiger Teil der Gegenwart eröffnet sie einen Blick auf informelle Beziehungen und Potentiale, die bislang kaum Beachtung gefunden haben.
Neben diesen drei Avantgardisten kommen auch zahlreiche andere Künstler und Schriftsteller zu Wort. Auf diese Weise entfaltet sich ein schillerndes kultur- und theoriehistorisches Panorama.
Die "statische Moderne" verhandelt zum einen die eng mit der mechanischen Statik verwobene Geschichte und Ästhetik der Eisenarchitektur, zum anderen bietet sie Raum für die Suche nach Harmonie, Ruhe, Universalität und Monumentalität. Der Wunsch, Statisches mithin Äquilibristisches zu schaffen, ist nur auf den ersten Blick etwas, das in einer Zeit purer Dynamik unpopulär ist. Vielmehr zeigt sich, dass die Statik die Klassische Moderne durchdringt und prägt.
Begehren, Sexualität, Intimität und Affektivität sind feinmaschig in die spätkapitalistische Matrix des Sozialen eingewebt. Die Studie untersucht die politische Ökonomie des Begehrens nach 1968. Sie unternimmt einen Streifzug quer durch die Philosophiegeschichte – von Platon über die Psychoanalyse zum Poststrukturalismus. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass Ökonomie einen konstitutiven Faktor darstellt, wenn man Begehren begreifen will. Umgekehrt lassen sich sozioökonomische Strukturen nicht ohne die Rolle des Begehrens verstehen. Begehren wirkt sozialmobilisierend, indem es normative Ordnungen sowohl errichten und aufrechterhalten als auch überschreiten kann. Neben paradigmatischen Positionen von Platon, Georg W. F. Hegel, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud werden begehrensökonomische Thesen von Gilles Deleuze und Félix Guattari und der im Paris von Mai ’68 aufkommenden Philosophie des Begehrens betrachtet.